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Rolf Langebartels

Über plastische Arbeiten mit Klang und ein anderes Musikhören



Der Blinde ist ganz wesentlich aufs Hören angewiesen. Auch der Arzt, der das Leibesinnere seines Patienten perkussiv untersucht oder mit dem Stethoskop Herz und Lunge auskultiert, verläßt sich allein aufs Hören. Doch sind dies Grenzsituationen, peripher im Leben der westeuropäischen Kultur, die ihre Wahrnehmung vorrangig auf das Sehen stützt, im Gegensatz etwa zur wedischen Kultur, die alles Leben als Klang und Musik faßt. Die Welt ist Klang. Raum ist der westlichen Welt in der Hauptsache Sehraum, gebunden an die Sichtbarkeit der Dinge. Das Sehen unterscheidet die Dinge klar und bestimmt im Raum und rückt sie in Distanz zum Wahrnehmenden. Hör- und Klangräume dagegen sind mit dem Nachtraum verwandt, in dem die Dinge keine festen Umrisse und Grenzen haben und den Wahrnehmenden umgeben und umhüllen. 'Die Dämmerung erfüllt den Raum, wie auch die Nacht es tut, und übt so dem Klang verwandte Wirkungen aus, der, den Raum erfüllend und homogenisierend, das Auseinanderstrebende eint und bindet', schreibt Straus in seiner Analyse der Formen des Räumlichen.

Varese-Poeme Erst seit wenigen Jahrzehnten wird Raum zu einem Aspekt von Musik, der von Künstlern intensiv und nicht nur beiläufig bearbeitet werden könnte. Einer der ersten Klangräume in der noch jungen Geschichte der plastischen Arbeiten mit Klang ist Edgard Varèses 'Poème électronique', in dem die sonst so getrennten Künste der Musik und der Architektur zusammenfinden und ein hervorragendes Werk formen. Auf Einladung des Philippskonzerns, der sich auf der Weltausstellung in Brüssel im Jahre 1958 vorstellen wollte, schlug Le Corbusier das Projekt eines Pavillons vor, dessen architektonischen Entwurf Iannis Xenakis und dessen musikalische Gestaltung Edgard Varèse übernahmen.


Paraboloide und Hyperboloide, die Xenakis aus einer graphischen Interpretation der Glissandi seines Orchesterwerkes 'Metastasis' gewonnen hatte, bestimmten die Pavillonarchitektur, einen Betonbau in Zeltform mit drei Spitzen. In Schüben wurden die Besucher des Pavillons eingelassen und konnten während acht Minuen die Komposition von Varèse hören. Auf den inneren Zeltwänden waren 425 Lautsprecher mit 20 Verstärkerkombinationen installiert, über die Varèses 3-kanalige Tonbandkomposition gespielt wurde. Endlich konnte Varèse hier seine Vorstellung von spatialer Musik 'als Körper intelligenter Klänge, die sich frei im Raum bewegen' verwirklichen.

In seinen Vorträgen sprach Edgard Varèse über seine Musik in Begriffen aus dem Bereich der Plastik: 'Bewegung von Klangmassen', 'Projektionen auf andere Ebenen', 'Bewegungen mit verschiedenen Geschwindikeiten und in verschiedenen Richtungen', 'Klangprojektion', die er als Abreise eines Klangs in den Raum versteht, der uns ohne die Hoffnung verläßt, durch Reflektion zu uns zurückgeworfen zu werden. Mit Hilfe von elektronischen Instrumenten möchte er eine Komposition schaffen, die seiner Idealvorstellung nahekommt: 'Das ganze Werk wird fließen, wie ein Fluß fließt'. Das 'Poème électronique' ließ in ihm den Eindruck entstehen, 'als ob die Musik sich um den Pavillon bewege oder als ob sie aus verschiedenen Richtungen käme, zurückgeworfen würde etc. Zum ersten Male hörte ich meine Musik buchstäblich in den Raum projiziert'.

Aber schon hier ergibt sich das Dilemma aller Klangräume: Mit dem Abriß des Pavillons zum Ende der Weltausstellung verschwand mit der Architektur auch die Musik. Die Bahnen der Klänge im Raum und die Wirkung der Lautsprecher in ihrer porenförmigen Anordnung auf den Zeltwänden, aus denen die Klänge gleichsam atmeten, lassen sich nicht mehr vermitteln; die Komposition 'Poème électronique' mit einer Dauer von acht Minuten, heute von einer Schallplatte gehört, gewinnt keine räumliche und musikalische Präsenz mehr. Das 'Poème électronique' war ein Klangraum, eine Komposition für einen konkret bestimmten Raum und somit auch unwiderruflich an dessen Existenz gebunden.

Im Gegensatz dazu wird Musik derzeitig zum größten Teil in Konzerträumen, Philharmonien, in Opernhäusern gehört. Diese Räume sind von Toningenieuren so konstruiert, daß im Idealfall an jedem Ort des Raumes die vom Orchester gespielten Klänge gleichermaßen zu hören sind, andernfalls weigern sich die namhaften Orchester, in diesen Räumen zu spielen. Solches wird auch durch die HiFi-Technik erreicht, wenn man Schallplatten oder Tonbänder zuhause über die Stereoanlage abspielt. Es handelt sich hierbei um Techniken, die die Räume vom spezifischen Klang bzw. die Klänge vom spezifischen Raum loslösen. In diesem Sinne sind die meisten Musikräume abstrakte Räume gegenüber den Klängen, ähnlich wie ein Museum ein abstrakter Raum gegenüber den dort in ständigem Wechsel gezeigten Kunstwerken ist. Nun arbeiten heute eine ganze Reihe von Komponisten und bildenden Künstlern daran, Musik wieder konkret zu machen - nicht im Sinne der von Pierre Schaeffer begründeten Musique concrète, sondern als Versuch, Klänge und ihre zeitliche Strukturierung auf die akustischen Gegebenheiten eines bestimmten Raumes zu beziehen. Das könnte letztlich bedeuten, daß jeder Raum für Musik geeignet ist, wenn diese selbst nur für diesen Raum gemacht wurde und also situationsspezifisch ist.

In der Unterhaltung 'Eupalinos oder über die Architektur' von Paul Valèry sagt Sokrates zu Phaidros: 'Ich möchte den Gesang von Säulen hören und mir im klaren Himmel das Denkmal einer Melodie vorstellen'. Architektur und Musik sieht er eng miteinander verbunden und stellt sie den anderen Künsten gegenüber. Die Verwandtschaft dieser beiden Künste rührt daher, daß wir in ihren Werken sein können, 'wie die Fische in der Welle, vollständig in ihm zu baden, in ihm zu leben, ihm zu gehören'. 'Kam es Dir dann nicht vor, als ob der ursprüngliche Raum ersetzt worden wäre durch einen verständigen und veränderlichen Raum; oder viel mehr als ob die Zeit selbst Dich auf allen Seiten umgäbe?', beschreibt Sokrates dem Phaidros seine Erfahrung eines Klangraumes.

Der Raumcharakter der Musik ist natürlich im Raumcharakter des einzelnen Klanges begründet, der für sich schon ein plastisches Gebilde ist. Wenn ein Klang sich durch ein Medium bewegt, vibrieren oder schwingen die Moleküle an den Punkt-Orten dieses Mediums, die dann zu Ereignis-Orten werden. Menschliche Ohren können diese Bewegung meist nur im Medium Luft, manchmal im Wasser wahrnehmen. Wenn es keinen Klang gibt, ist jedes Molekül in der Luft in Ruhe. Wird in dem Medium irgendwo eine Deformation erzeugt, z. B. auf eine Tischplatte geklopft, bewirken elastische Kräfte bei den nahegelegenen Orten eine Bewegung; diese regen ihre Nachbarn an und so fort. Der Klang bewegt sich als elastische Welle durch den Raum. Nicht Masse, sondern Energie wird so durch den Raum transportiert. Nach einer Strecke, die der Klang durchläuft, reicht die Energie nicht mehr, weiter Luftmoleküle zu erregen, und der Klang verebbt. 'Die meisten Leute freilich halten Musik einzig für eine Kunst. Aber fällt denn auf ihr Musikhören nie ein Funke der Besinnung, die ihnen sagen müßte, daß sie dabei einem physikalischen Phänomen unterliegen: nicht eher als die Luft zwischen dem Ohr des Hörers und dem Instrument perturbiert wird, findet Musik statt' betont Edgard Varèse die Akustik als Grundlage der Musik.

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Tudor-Rainforest Klang kann Künstlern zum plastischen Material werden, in dem ja schon Raum und Zeit verschmelzen und mit dem sie Skulpturen und Erlebnisräume schaffen. 'Rainforest IV' von David Tudor aus dem Jahre 1973 ist ein elektroakustisches Environment, in dem elektronisch erzeugte Klänge nicht über herkömmliche Lautsprecher geleitet werden, sondern über eigens entworfene Skulpturen, d. h. verschiedene Gegenstände, von denen jeder einen Klangkörper eigener Art bildet. So kann man z. B. unter eine, von der Decke mit der Öffnung nach unten hängende Tonne treten und darin Klänge hören.


Realisiert wird 'Rainforest IV' durch die Gruppe Composers Inside Electronics (John Driscoll, Phil Edelstein, Ralph Jones, Martin Kalve, David Tudor und Bill Viola) jeweils besonders für und in einem konkreten Raum. Jeder der sechs Komponisten der Gruppe entwirft und baut seine eigenen Klangobjekte oder Objektlautsprecher und erzeugt unabhängig von den anderen in der live-Situation Klangmaterial, mit dem er die Resonanzcharakteristika seiner Skulpturen vorstellt. Ergebnis ist eine Art von Materialmusik, die teils durch die musikalischen Vorgaben des Komponisten wie Rhythmus oder Tonhöhen etc. bedingt ist, teils aber auch durch die Eigenfrequenzen der verwendeten Gegenstände selbst. Die Skulpturen werden als musikalische Instrumente benutzt und spannen einen Klangraum auf, der sowohl visuell als auch akustisch erfahrbar ist, dazu aber auch eine geradezu körperliche Beziehung zu den Klängen ermöglicht.

Genau das Umgekehrte zu 'Rainforest IV' geschieht im konventionellen Konzert, dieser seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts mit der bürgerlichen Gesellschaft Westeuropas entstandenen und heute noch dominanten Kulturform, in der Musik 'realisiert' und 'dargeboten' wird. Ob nun klassische Musik, Jazz oder Rock gespielt wird, in jedem Falle versammeln sich die Musiker im Konzert auf einer gegenüber dem Publikum höher gelegenen Bühne, um auf sich aufmerksam zu machen und um attraktiv zu erscheinen. Zuhause sitzt der Hörer vor seinen Lautsprechern, um Musik in ähnlicher Weise frontal zu hören. Gegenüber dieser hierarchischen Hörweise leisten unsere Ohren organisch extrem mehr: sie können Klänge orten, Richtungen feststellen und Bewegungen wahrnehmen. Ein Klang, von irgendeinem im Raum erzeugt, kann im Raum in vielfältiger Weise wahrgenommen werden, abhängig von Reflektionen, Interferenzen, Entfernungen, zeitlichen Verschiebungen etc. Diese Erfahrung kann geradezu für eine Fefinition von Klang herreichen: 'Ein Klang ist die Gesamtheit der Möglichkeiten, ihn zu hören', sagt der Klangkünstler Bill Fontana und bezieht darin auch die Aufzeichnung und Wiedergabe eines Klanges zu anderen Zeiten, die live-Sendung über Satelliten und Radios an andere Orte und in andere Kontexte mit ein.

Der Klangraum von 'Rainforest IV' ist jedoch nicht nur Hörraum im eingeschränkten Sinne, sondern bedingt durch die mannigfaltigen Fähigkeiten unseres Hörens auch besonders Bewegungsraum. Entgegen dem Verhalten im Konzertsaal, in dem man auf die angekündigte Beschallung wartet, stimuliert er die Bewegung des Besuchers. Der Hörer erwandert die Klänge, erforscht ihre Bewegung im Raum, sucht die körperliche Nähe zu den klingenden Skulpturen, hört aus der Ferne, umkreist die Schallquellen etc. Seine Bewegung entspricht einem Tanz und ist nicht mehr nur zweckhafte Bewegung. Der Besucher eines solchen Klangraumes tanzt und versucht nicht etwa auf kürzestem Wege von A nach B zu gelangen. Auch verlieren diese Räume ihren Richtungscharakter; Kreis- und Rückwärtsbewegungen sind nicht mehr wie im alltäglichen Leben tabuisiert. Es gibt kein Ziel, das zu erreichen wäre, sondern die Bewegung orientiert sich an der Wahrnehmung der Musik im Raum und vice versa. Der Besucher erlebt einen Prozeß von Annäherung und Angleichung und kann eine Einheit mit den Dingen und Klängen empfinden.

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Cage-House Daß solche Klangräume das Hören, aber auch das Komponieren und damit den Begriff von musikalischer Komposition total verändern, zeigt auch die Komposition 'A House Full of Music' von John Cage, 1982 für das Überseemuseum in Bremen realisiert. Mit dieser Komposition konnte John Cage 'seinen Traum wahrmachen, gleichzeitig in einer Vielzahl von Räumen Musik aller Zeiten und aller Arten miteinander zum Erklingen zu bringen'. Das Überseemuseum in Bremen ist ein ethnographisches Museum mit zwei großen Lichthöfen, die durch zwei Etagen reichen und große Boote aus der Südsee aufnehmen, einen japanischen Garten und viele andere Schätze aus nichteuropäischen Kulturen.


An 37 verschiedenen Stellen dieses Museums, auf mehreren Etagen, die in die Lichthöfe münden, spielten über 800 Kinder Musikstücke der eigenen Wahl und in allen Besetzungen vom Solo bis zum Symphonieorchester, von der Klassik bis zum Volkslied, vom Flötenstück bis zur Perkussionsimprovisation. Die Partitur von John Cage legte für die einzelnen Stellen des Gebäudes die zeitlichen Einsätze fest, die sich auch teils überlagerten.

Während des Konzerts konnte der Besucher im ganzen Museum herumgehen und seine Wahrnehmung frei entwickeln. Jeder Besucher dieses Hauses, das auch im akustischen Sinne voll war mit Musik, hörte in den eineinhalb Stunden des Konzerts auf seinen Wegen durch das Haus wirklich Verschiedenes. Er hörte Musik, die er selbst in der von Cage vorgegebenen offenen Struktur hören wollte, und nicht etwas, was der Komponist vorher konzipiert hätte, geschweige denn je vorher gehört haben könnte. Der Hörer selbst wird durch die Bestimmung seines Weges durch den Klangraum in dem Angebot des eigentlichen Komponisten John Cage zu seinem eigenen und damit auch für sich verantwortlichen Komponisten. Inspiriert durch das Kunstwerk Cages verlebendigt sein Tanz durch die Musik und durch den Klangraum die Komposition und den Raum.

So war dieser Klangraum auch voll von Bewegung und kontinuierlichem Wandel: ein Flux-Raum und ebenso eine soziale Plastik im Sinne Joseph Beuys, die eine starke soziale Wärme ausstrahlte. Um seine Musik von der vorherrschenden total determinierten Musik abzusetzen, bemerkt John Cage: 'Was nun diese nichtintentionale Musik betrifft, so möchte ich sie dem Hörer mit Hilfe dieser oder jener Mittel - es können theatralische, architektonische oder sonst welche sein - klarmachen, daß das Hören eines Musikstückes seine eigene Tätigkeit ist, daß die Musik sozusagen mehr die seine ist als die des Komponisten'. Errecht wird dies, indem die zeitliche Struktur von Musik sich quasi in den Raum auflöst. Das bedeutet eine räumliche Polyphonie. Der konkret vom Hörer erlebte Raum stimmt mit der von ihme konkret erlebten Zeit überein, in der die kompositorischen Elemente durch seine Bewegung ihren Platz finden.

Die hier beschriebenen Klangräume lassen sich nicht einer der Künste allein zuordnen. Sie haben meist ihr Arbeitsfeld im Dreieck von Musik, Architektur und Skulptur. Und dies nicht etwa, weil die Künstler einer Fatamorgana von Multi-Medialität hinterherliefen, sondern weil sie ihre Arbeit nicht durch Reduktion auf nur einen der menschlichen Sinne einschränken lassen . Es scheint, als sei in dem hier umrissenen Bereich von Kunst eine Erweiterung des Kunstbegriffs am Werk, auch hin zur sozialen Plastik, die sich am Begriff von Freiheit orientiert.

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Literatur:

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© Rolf Langebartels, Berlin, 1996

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