Vitruv
Zehn Bücher über Architektur, Buch X, Kapitel VIII

Von der Wasserorgel



    1. Ich will nicht unterlassen, so kurz und genau ich vermag, die Konstruktion der Wasserorgel zu berühren und schriftlich aufzuzeichnen. Man stellt ein Untergestell aus Holz her und setzt einen aus Bronze gefertigten Kasten darauf. Auf dem Untergestell errichtet man rechts und links von dem Kasten Ständer, die wie bei Leitern durch Sprossen fest verbunden sind. Die Ständer umschließen bronzene Stiefel (Kolbenzylinder). In diese werden auf- und niedergehende, sorgfältig gedrechselte Kolben eingeführt, welche mit eisernen, in der Mitte befestigten Kolbenstangen versehen sind. Letztere sind durch Gelenke (Verröhrungen) mit Hebeln verbunden. Auch sind die Kolben mit wolligen Fellen überzogen. Ferner sind auf der oberen Fläche der Stiefel ungefähr 3 Zoll breite Öffnungen. Ganz dicht bei diesen Öffnungen halten bronzene, an Gelenken befestigte Delphine im Maule an Ketten Becken (als Verschlußdecke), die unter die Löcher der Stiefel herabgelassen sind.

Vitruv, Wasserorgel
Zeichnung aus Vitruv, Zehn Bücher über Architektur, Darmstadt 1964, Abb. 18

    2. Innerhalb des Kastens befindet sich da, wo er Wasser enthält, ein Windkessel in Form eines umgekehrten Trichters. Unter diesen werden ungefähr 3 Zoll hohe Klötze gelegt, welche dem untersten Raum zwischen dem Rande des Windkessels und dem Boden des Kastens eine waagerechte Lage geben. Auf den Hals des Kessels aber ist eine Windlade geleimt, welche den Hauptteil der Vorrichtung trägt, die griechisch kanon musikos heißt. In diesem werden der Länge nach, wenn die Orgel vierstimmig (mit 4 Registern versehen) ist, 4 Kanäle gemacht, wenn sechsstimmig 6, wenn achtstimmig 8.

    3. Jeder Kanal ist mit einem Hahn (Register) verschlossen, mit eisernen Griffen versehen. Werden diese Griffe gedreht, so machen sie die Öffnungen von der Windlade nach den Kanälen auf. Aus den Kanälen führen beim Kanon querliegende Löcher, die den Öffnungen in einer ganz oben liegenden, griechisch Pinax genannten, Tafel (Pfeifenstock) entsprechen. Zwischen dem Pfeifenstock und Kanon sind Schieber eingefügt, die in derselben Weise (wie Pfeifenstock und Kanon) durchbohrt und mit Öl eingerieben sind, damit sie sich leicht vorziehen und wieder nach innen zurückschieben lassen. Diese Schieber verschließen die erwähnten Löcher und heißen Plinthides (Platten). Das Heraus- und Hineinschieben derselben verschließt bald die Löcher, bald öffnet es sie.

Vitruv, Wasserorgel
Zeichnung aus Vitruv, Zehn Bücher über Architektur, Darmstadt 1964, Abb. 18

    4. An diesen Schiebern sitzen eiserne Sprungfedern fest, die mit Tasten verbunden sind. Ein Druck auf diese Tasten setzt beständig die Schieber in Bewegung. Über den Löchern des Pfeifenstocks sind da, wo sie aus den Kanälen die Luft ausströmen lassen, Ringe festgeleimt, welche die Röhren aller Orgelpfeifen umschließen. Von den Stiefeln gehen Verbindungsröhren aus, die mit dem Halse des Windkessels in Verbindung stehen und bis zur Öffnung (d. h. in die Nähe der Öffnung) in der Windlade führen. Im Halse sind gedrechselte Klappenventile angebracht, die die Löcher verschließen und keine Luft wieder zurückströmen lassen, wenn die Windlade sie aufgenommen hat.

    5. Werden bei solchen Vorrichtungen die Hebel gehoben, so ziehen die Stangen die Kolben der Stiefel nach unten, und die Delphine, welche an den Gelenken sind, lassen die Deckel in die Stiefel hinab und füllen den Innenraum der Stiefel mit Luft. Wenn dann die Stangen infolge heftigen wiederholten Stoßens die Kolben heben und durch die Deckel die Löcher darüber verschließen, so pressen sie die dort eingeschlossene, komprimierte Luft in die Röhren, durch welche sie in den Windkessel und durch dessen Hals hindurch in die Windlade dringt. Durch eine lebhaftere Bewegung der Hebel wird Luft in Menge komprimiert, strömt nach den Öffnungen der Register und füllt die Kanäle mit Luft an.

    6. Wenn daher die Tasten, von den Händen berührt, unaufhörlich die Schieber vor- und zurückschieben und so die Löcher abwechselnd öffnen und schließen, so bringen sie mit musikalischer Kunst in mannigfaltiger Abwechslung der Weisen (Melodien) die Orgeltöne hervor.

    Ich habe mich nach Kräften bemüht, diese schwer verständliche Sache klar darzustellen. Indessen die Einrichtung ist nicht leicht und nicht allen begreiflich, mit Ausnahme derer, die in Dingen dieser Art praktische Erfahrung besitzen. Wer etwa die Beschreibung nicht recht verstehen sollte, wird jedenfalls dennoch finden, daß alles sorgfältig und geschickt eingerichtet ist, wenn er die Sache selbst (aus eigener Anschauung) kennenlernt.

aus dem Lateinischen übersetzt von Curt Fensterbusch
Zehn Bücher über Architektur, Darmstadt 1964


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© Rolf Langebartels, Berlin 2014