Rolf Langebartels
Internetprojekt Soundbag


 
Klangbeutel Nr. 47
update vom 4. Dezember 1999
     Ungepulste Zeit ist nicht nur eine vom Takt befreite Zeit, sozusagen eine Dauer, und auch nicht nur ein neues Verfahren der Individuation, befreit von Thema und Subjekt, sondern es geht dabei vor allem um die Geburt eines von der Form befreiten Materials. In gewisser Weise könnte die klassische europäische Musik durch das Verhältnis eines rohen Klangmaterials zu einer bestimmten klanglichen Form definiert werden, die über das Material entscheidet und herrscht. Das implizierte eine gewisse Hierarchie von Materie — Leben — Geist, die vom Einfachsten zum Komlexesten reicht und die auch die Vorherrschaft einer metrischen Kadenz als Homogenisierung von Dauern in einer gewissen Gleichwertigkeit der Teile des Klangraums garantierte.
     Im Gegensatz dazu erleben wir in der aktuellen Musik die Geburt eines Klangmaterials, das nicht länger ein einfaches oder undifferenziertes Material ist, sondern ein vielschichtiges und reiches (très élaboré) , ein sehr komplexes; und dies Material wird nicht mehr einer klanglichen Form unterworfen, weil es diese nämlich nicht mehr braucht: Es wird seine Aufgabe sein, für sich selbst, die Kräfte zum Klingen zu bringen und hörbar zu machen, die von selbst nicht hörbar sind, und auch die Unterschiede zwischen diesen Kräften.
     Das Paar rohes Material — klangliche Form wird ersetzt durch die ganz andere Kopplung von elaboriertem Klangmaterial — nicht wahrnehmbaren Kräften, die das Material hörbar, wahrnehmbar macht.
aus dem Französischen übersetzt von Rolf Langebartels
Gilles Deleuze
Ungepulste Zeit
Vortrag gehalten auf der Konferenz über musikalische Zeit, IRCAM, Paris 1978
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